Das Nervensystem und die Polyvagal-Theorie

Polyvagaltheorie 1.001

 

Der Sympathikus ist für die Aktivierung zuständig (Kampf und Flucht). Der Blutdruck steigt, die Herzfrequenz wird schneller, die Pupillen kleiner, die Atmung flacher und schneller. Adrenalin wird ausgeschüttet und die Muskeln werden angespannt. Der Blutfluss bewegt sich vom Darm weg. Die Darmbewegung verlangsamt sich und die Gallenblase zieht sich zusammen. Dies kann Schmerzen verursachen. Tränen werden vermindert und die Augen trocknen aus. Die Blase verkrampft sich und es fällt uns schwerer zu urinieren. Es kann zu vermehrtem Schwitzen kommen.
Der Parasympatikus ist sehr wichtig um alles Chronische zu heilen. Er ist für Ruhe, Regeneration und Verdauung zuständig. Er senkt den Blutdruck, die Atmung wird tiefer und ruhiger, wir entspannen uns, Adrenalin wird abgebaut, die Pupillen werden grösser, das Blut fliesst zurück zum Darm, die Gallenblase entspannt sich, die Tränenproduktion wird angeregt und das Urinieren fällt uns leichter.
Und dann ist da noch das entersiche System. Das sind die Nerven, die zu allen Organen des Verdauungstraktes führen, zu unserem Magen, unserem Darm, unserer Gallenblase, unserer Leber, der Milz und der Bauchspeicheldrüse.

Die meisten von uns sind wahrscheinlich mit dem sympathischen Gefühl vertraut. In unserer Gesellschaft ist es sehr schwer nicht im sympathischen Zustand zu leben, denn wir haben ständig Rechnungen zu bezahlen, Verkehrschaos, Leistungsdruck, ständige politische Veränderungen, etc. All diese Dinge halten uns irgendwie auf Trab.
Denken wir hingegen an unseren Lieblingsplatz in der Natur, setzen uns hin und machen einfach Mal nichts oder treten eine Reise an und kommen endlich dort an, das Wetter ist perfekt und plötzlich fällt alles von uns ab, wir fühlen uns gelöst und zufrieden. Das ist der Parasympatikus der einsetzt. Diesen Zustand sollten wir täglich immer wieder herstellen.

Das enterische Nervensystem (Darm) wird oft als zweites Gehirn bezeichnet. Der Darm interagiert sowohl mit dem Sympathikus als auch mit dem Parasympatikus.
Ist die Darmtätigkeit zu schnell oder zu langsam, heiss dies, dass wir am entersichen System arbeiten müssen. Es transportiert das Wasser aus der Nahrung durch die Darmschleimhaut in den Blutkreislauf, es ist an den Verdauungsenzymen und an der Immunabwehr des Darms beteiligt.
Beispielsweise haben wir natürliche Bakterien, sogar natürliche Mengen von Candida im Darm, aber sie können ausser Kontrolle geraten, wenn wir keine gute Immunabwehr im Darm haben.

Ein weiterer Teil des Nervensystems, ist das limbische System. Das ist ein Teil des Gehirns, welches wir Angst- und Emotionszentren nennen. Es ist evolutionär gesehen ein sehr alter Teil des Gehirns. Es setzt sich aus mehreren Gehirnstrukturen zusammen:

Wichtige limbische Strukturen sind:

  • Hippocampus: Seine Funktion ist es Inhalte vom Kurz– ins Langzeitgedächtnis zu übertragen.
  • Amygdala (Corpus amygdaloideum / Mandelkern): Sie ist wichtig für die Speicherung von Gedächtnisinhalten verknüpft mit Emotionen (emotionales Lernen) und das Affektverhalten. Außerdem ist sie an vegetativen und sexuellen Funktionen beteiligt.

Oft zählen auch dazu:

  • Teile des Riechhirns (mit dem Riechkolben): Der Teil des Endhirns, der der Geruchswahrnehmung dient.
  • Teile des Thalamus (z.B. Nucleus anterior): Er ist beteiligt an Wachsamkeit, Emotionen und Gedächtnis.

Die Aufgaben des limbischen Systems sind vielfältig. Es steuert Funktionen wie Emotionen, Triebverhalten, Antrieb, Gedächtnis und Verdauung. Es arbeitet eng mit anderen Gehirnregionen zusammen.

Hier ein Beispiel dafür, wie das limbische System funktioniert:
Warst Du jemals wandern oder eine Gasse entlang gegangen und plötzlich haben sich die Haare in Deinem Nacken aufgestellt? Also Du weisst, dass etwas nicht stimmt, dass Du besser von dort verschwinden solltest?
Die meisten von uns haben diese Erfahrung schon gemacht. Und das bedeutet, dass wir etwas gerochen haben, auch wenn wir es vielleicht nicht bemerkt haben. Dieser Geruch hat uns signalisiert, dass eine Gefahr besteht.
Menschen oder auch Tiere geben bestimmte Hormone (Pheromone) ab. Wir können Angst, Wut oder auch Liebe riechen. Das ist auch der Grund warum wir uns auf den ersten Blick verlieben.

Ein anderes Beispiel:
Wenn wir Schimmelpilzen oder mehreren Chemikalien ausgesetzt waren, wird sich unser limbisches System daran erinnern. Wir riechen Schimmel auch wenn wir ihn nicht wahrnehmen können.
Und wenn der Schimmel uns krank macht, wird sich unser limbisches System daran erinnern und das nächste Mal, wenn wir Schimmel ausgesetzt sind, wird es die Alarmsignale auslösen.
Und was dann passieren kann, ist, dass das limbische System schliesslich so übervorsichtig wird, dass das Nervensystem bei jedem Reiz überreagiert.
Die Signale an unsere Mastzellen und andere Immunzellen spielen verrückt, weil das limbische System sich in einem ständigen Angstzustand befindet.

Wenn ich vom Sympathikus und Parasympathikus spreche, meine ich alle Nerven im Körper, die damit in Zusammenhang stehen, auch den Vagusnerv.
Der Vagusnerv ist der grösste Nerv des Parasympathikus und teilt sich in zwei Stränge, den myelinisierten und den nichtmyelinisierten Teil. Der Vagusnerv verbindet das Gehirn mit dem Herzen und dem Darm. Er ist auch mit der Lunge, dem Zwerchfell, der Leber und der Milz verbunden. Dies erklärt auch warum bei Störungen des Vagusnervs Symptome oft an mehreren Orten gleichzeitig auftreten können.
Für den Vagusnerv gibt es eine eigene Theorie, die Polyvagal-Theorie.

Polyvagal-Theorie – Die Suche nach gefühlter Sicherheit
Die Polyvagal-Theorie wurde von Stephen Porges, ein Neurowissenschaftler, entwickelt.
Sie ist eine Theorie des autonomen Nervensystems (ANS). Die Aufgabe des ANS ist, unser Überleben sicherzustellen ohne dass wir darüber nachdenken müssen. Es ist dafür verantwortlich, wie wir auf Gefahren („Stress”) reagieren.
Was wir normalerweise in der Schule lernen, ist, dass das ANS aus dem Sympathikus und dem Parasympathikus besteht, also aus 2 Teilen. Ein wichtiger Beitrag der Polyvagaltheorie war, zu zeigen, dass der Parasympathikus eigentlich aus zwei Teilen besteht. Aus dem vorderen (myelinisierten) Vagus und dem hinteren (nichtmyelinisierten) Vagus. Somit besteht das ANS aus 3 Systemen, dem vorderen Vagus Nerv, dem Sympathikus und dem hinteren Vagusnerv. Die beiden Teile des Parasympatihkus sind für unterschiedliche Arten von Ruhe zuständig.
Je nachdem, welches System gerade aktiv ist, reagieren wir unterschiedlich auf Stress.
Wenn der vordere Vagus aktiviert ist, fühlen wir uns entspannt, sicher und sozial. Wenn in diesem Zustand ein Problem auftaucht, versuchen wir zunächst, es auf soziale Art und Weise zu lösen: durch Kooperation, indem wir z.B. um Hilfe bitten, indem wir kommunizieren.
Wenn diese Lösungsversuche nicht ausreichen, um das Problem zu lösen, wird der Sympathikus aktiviert. Das ist die klassische Stressreaktion, die wir alle kennen. Hier geht es um Mobilisierung, also um intensive körperliche Bewegung, durch die wir die Bedrohung entweder bekämpfen oder ihr entfliehen („Fight or Flight”). Kommunikation und Kooperation funktionieren hier nicht mehr.
Wenn Mobilisierung nicht ausreicht, um das Problem zu lösen, oder wenn Bewegung einfach nicht möglich ist (z.B. weil wir irgendwo feststecken), wird der hintere Vagus aktiviert und damit das primitivste aller Schutzsysteme. Das gibt es bereits bei Reptilien und äussert sich dort als Totstellen bei Gefahr. Bei uns äussert sich diese Schutzreaktion als „Erstarren”: tatsächliche Bewegungslosigkeit, Kraftlosigkeit oder emotionales Ausschalten. Diese Reaktion ist typisch für Trauma. Hier funktioniert Bewegung nicht mehr, und Kommunikation und Kooperation erst recht nicht.
Im Laufe unserer Evolution hat genau dieses Stressreaktionsmuster – soziale Unterstützung, Mobilisierung, Erstarren – unser Überleben erfolgreich gesichert. Leider hat sich dieses Stressmuster auch in unserem modernen Alltag festgesetzt. Situationen wie Konflikte am Arbeitsplatz, Zeitdruck, Geldsorgen, etc. werden von unserem autonomen Nervensystem alle als Bedrohungen gedeutet und lösen früher oder später eine akute Stressreaktion aus (aktivierter Sympathikus). Allerdings lassen sich die wenigsten dieser Probleme durch Mobilisierung im Sinne von körperlicher Bewegung lösen. Und wenn Mobilisierung nicht ausreicht, um der Bedrohung zu entkommen, rutscht unser Nervensystem in die Erstarrung (aktivierter hinterer Vagus) – ein Mechanismus, der ursprünglich nur für lebensbedrohliche Ausnahmesituationen gedacht war!

Wie ist der Vagusnerv am überaktiven Nervensystem beteiligt?
Der Vagusnerv erhält Signale aus den verschiedensten Körperregionen. Diese werden dann sozusagen sortiert, und zwar ganz primitiv in zwei Kategorien, sicher oder gefährlich, eingeteilt. Die Polyvagaltheorie bezeichnet diesen Prozess als Neurozeption.
Neurozeption findet komplett unbewusst statt. Das Nervensystem hat sozusagen eine eigene „Meinung” zu allem, was gerade passiert. Diese Meinung entsteht viel schneller als die Gedanken, die uns bewusst sind – und kann diesen sogar widersprechen. Das erklärt, warum unser Körper mit Stress auf scheinbar harmlose Situationen reagiert. Wenn es Gefahrensignale erhält, aktiviert es ganz automatisch die drei oben beschriebenen Schutzsysteme.

Wie können wir die unbewusste Neurozeption beeinflussen?
Die Polyvagaltheorie bietet uns nicht nur Erklärungsansätze an, sondern auch ganz konkrete Strategien, wie wir die Aktivierungsmuster unseres Nervensystems positiv beeinflussen können. Dies geschieht durch folgendes:

  • Die Anwesenheit von Menschen, bei denen wir uns sicher und sozial gut aufgehoben fühlen, die sich selber im „Sicher und Sozial”-Zustand befinden
  • Wenn jemand mit melodiöser Stimme und lebendiger, freundlicher Mimik mit uns spricht
  • Langsame Atmung
  • Gezielte Übungen, die den Vagusnerv stimulieren
  • Singen, Summen und das Spielen von Blasinstrumenten. Wenn wir das gemeinsam mit anderen tun (z.B. im Chor), umso besser.
  • Spazierengehen in der Natur

Die meisten von könnten im Leben mehr Entspannung brauchen. Aber die Art und Weise, wie wir das versuchen, ist wichtig. Wie bereits hier erwähnt kommt es auf die „richtige“ Art von Entspannung an. Nehmen wir das Beispiel Yoga. Wenn wir sehr anstrengendes Yoga machen oder wir es in einem Raum mit 12 oder mehr Menschen praktizieren, dann wird es vom ANS wahrscheinlich eher als Bedrohung wie als Entspannung angesehen. Gleiches gilt für Massagen, Gespräche oder Sport. Wenn unser Körper z.B. schlechte Erfahrungen mit Berührung oder Anstrengung gemacht hat, kann unser Nervensystem diese Aktivitäten als Gefahr interpretieren.

Beginnen wir das Nervensystem zu verstehen, können wir auch Situationen anders interpretieren und Resilienz entwickeln.
Die Polyvagaltheorie zeigt uns Wege, wie wir nachhaltig stressresistenter werden können und damit gesünder, zufriedener und leistungsfähiger.
Dabei geht es nicht darum jegliche Anstrengung zu vermeiden. Denken wir an einen Muskel. Dieser wird nicht stärker, indem wir ihn schonen und Anstrengung vermeiden, er wird aber auch nicht stärker indem man ihn andauernd fordert und überlastet. Der Muskel braucht Phasen der Anstrengung wie auch Phasen der Erholung wobei die Erholungsphasen deutlich länger ausfallen sollten.
Mit unserem Nervensystem sieht es ganz ähnlich aus. Es lässt sich trainieren, indem wir regelmässig zwischen Stress und Entspannung pendeln, dabei die Entspannungsphasen deutlich länger machen, Überlastung vermeiden und ganz allmählich den Stresspegel erhöhen, aus dem wir uns wieder gut in Entspannung zurück regulieren können.

Hierarchie des ANS:
1. Sicherheit:
Die Signale werden als sicher eingestuft – ventraler Vagusast im Parasympathikus.
2. Gefahr:
Die Signale werden als Gefahr eingestuft – Sympathikus.
3. Lebensbedrohung:
Die Signale werden als lebensbedrohlich eingestuft – dorsaler Vagusast im Parasympathikus.
Die Hierarchie in der Reaktion bestimmt die Reihenfolge von 1 nach 2 nach 3.
Bei Signalen von Gefahr passiert demnach folgendes:
1. suchen wir nach einer Lösung, indem wir instinktiv nonverbal nach Sicherheit im sozialen Kontakt forschen.
2. wenn dies nicht gelingt, dann schaltet unser ANS auf Kampf-/ Fluchtreaktionen um und geht in die Mobilisierung.
3. wenn auch dies scheitert und der Gefahrenreiz weiterhin registriert wird, bleibt nur noch Rückzug, Dissoziation und Immobilisierung.